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Freinet-Pädagogik
Stand 2021

  • Forum Freinet

    Literatur
    in Arbeit

  • Besprechung und Diskussion von Jürgen Göndör:

    Renate Kock (2001): Kinder lehren Kinder
    Der Begriff des tâtonnement expérimental im Werk Célestin Freinets
    mit einem Beitrag von Manfred Bliffert,

    Reihe: Basiswissen Grundschule - Band 7 - Hrsg. Jürgen Bennack, Baltmannsweiler, Schneider-Verlag Hohengehren, ISBN: 3-89676-404-7, als Taschenbuch: ISBN: 9783896764041

    2003 rezensiert von: Mouchet, Claude, in: Histoire de l'éducation, (2003) 97, S. 130-133
    2014 rezensiert von: Jürgen Göndör, in: freinet.paed.com .php und PDF


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    Eine wichtige Vorbemerkung:

    Es ist schade, dass dieses wichtige Buch zur Freinet-Pädagogik in der Reihe 'Basiswissen Grundschule' erschienen ist denn es ist für die Freinet-Pädagogik allgemein von großem Interesse. So hält es wahrscheinlich viele LehrerInnen und FreinetpädagogInnen, die nicht an der Grundschule arbeiten, vollkommen ungerechtfertigt vom Kauf ab. Die Bedeutung des tâtonnement expérimental im Rahmen der Freinet-Pädagogik ist ein grundsätzliche Schrift, weil sie - da heute Inklusion ja groß geschrieben wird - eine Möglichkeit aufzeigt, Unterricht an den Interessen der SchülerInnen zu organisieren statt einen vorgegebenen Lehrplan abzuerledigen. Sie gehört vielmehr in die Reihe 'Basiswissen für Pädagogen'.

    Aus dem Vorwort des Herausgebers der Reihe:

    "Mit dem von ihr (Renate Kock, JG) in den Mittelpunkt gestellten Begriff des experimentellen Tastens greift sie nicht nur einen zentralen Gedanken Freinets auf, den sie sowohl aus der Sicht des französischen Pädagogen als auch im Kontext der Lehr- und Lernforschung untersucht; zugleich spricht sie eine Grundlage moderner (Grund-)Schulpädagogik an. Eine Schule des selbständigen Handelns, als Weg und als Ziel, wie sie Freinet begründete und konzipierte, ist ein genereller zentraler Anspruch gerade an der heutigen Schule.

    Die Forderung, Schülerinnen und Schüler zu Subjekten ihrer eigenen Lehr-Lernprozesse zu machen, erfordert von Lehrerinnen und Lehrern zunehmende Kompetenz, die nicht zuletzt auf wissenschaftlich fundiertem Wissen beruht und der Auseinandersetzung mit der neuesten wissenschaftlichen Forschung. Genau hier setzt der Band an. Frau Kock liefert mit ihrer Aufarbeitung des experimentellen Tastens die theoretischen Grundlagen für ein aktives und selbstorganisiertes Lehren und Lernen. Sie schlägt den Bogen bis hin zu schul-, unterrichts- und organisatorischen Fragen, einschließlich handlungsleitender Aussagen.

    Abgerundet und ergänzt wird diese Darstellung durch den Bericht des Kunstpädagogen Manfred Bliffert aus der Praxis der Freinet-Arbeit."1

    Zusammenfassung:

    Renate Kock legt mit ihrem Buch eine Recherche zum Begriff des tâtonnement expérimental vor. In aller Ausführlichkeit erarbeitet sie die historische Entwicklung dieses Begriffs mit vielen Hinweisen auf Aussagen von Célestin Freinet in der verstreuten Originalliteratur sowie die einschlägige wissenschaftliche Diskussion. Sie untermauert ihre Argumentation mit eigenen Übersetzungen aus den Aufsätzen Freinets. Ein besonderes Augenmerk von Renate Kock liegt dabei auf der Abgrenzung zu Iwan Petrowitsch Pawlow, zu Burrhus Frederic Skinner und den Behavioristen, zu Jean Piaget, zu Lew Semjonowitsch Wygotski und zu Henri Wallon. Deutlich werden dabei die subjektorientierten, die konstruktiven und kommunikativen Faktoren des Lehrens und Lernens in seinem Gesamtwerk. Abschließend verdeutlicht sie das didaktische Konzept Freinets an einem Freien Text und macht so das unterrichtliche Vorgehen Freinets transparent.

    Sie arbeitet auch den Zusammenhang zwischen den individuellen Interessen und der Struktur des allgemeinen Arbeitsplanes heraus. Damit gelingt es Célestin Freinet sich von den ministeriellen Vorgaben abzukoppeln und transparent für die Kinder eine Struktur der Welt aufzubauen, die konsequent an ihren eigenen Interessen orientiert ist. Die Kinder lernen also, dass ihr Bild der Welt sich nicht aus einer objektiven und vorgegebenen Sicht dieser Welt ergibt, sondern aus der Konstruktion ihrer eigenen Lernaktivitäten. Damit ist nicht nur die jeweils ganz individuell Sicht eines Kindes gemeint, sondern die Konstruktion eines gemeinsamen Bildes der Welt durch alle Individuen in der kooperativen Klasse.

    Ihr Buchtitel: 'Kinder lehren Kinder' ist also nicht der Ansatz 'Lernen durch Lehren' von Jean Pol Martin2, in dem Kinder von einem Lehrer den Auftrag bekommen, in seine Rolle zu schlüpfen und dadurch dass sie ein Thema Lehren viel über dieses Thema lernen. Renate Kock verdeutlicht den Ansatz von Célestin Freinet: Indem er die Freien Texte der Kinder zum Ausgangspunkt seines Unterrichts macht, das thematisiert, was die Kinder einbringen. Sie beschreibt vor allem auch, wie das Schritt für Schritt geschieht. 'Kinder lehren Kinder' bedeutet daher, dass das, was ihnen so wichtig war, das sie es in ihren Freien Texten erzählt haben, genutzt wird, um ihre Fragen dazu zu sammeln und diese schließlich im Unterricht zu bearbeiten. Es ist nicht die Systematik eines Themas aus einem Lehrplan, der dann das Unterrichtsgeschehen dominiert, sondern die aktuellen Interessen der Kinder selbst. In sofern Lehren Kinder alle anderen Kinder durch ihre subjektiven Interessen, weil aus diesen subjektiven Interessen der Unterricht entsteht.

    Manfred Blieffert verdeutlicht in einem ergänzenden Beitrag den Wert der Schuldruckerei als Möglichkeit zur kreativen Selbsterfahrung.

    Es ist der akribischen Darstellung von Renate Kock zu verdanken, dass nicht nur der Begriff des tâtonnement expérimental im Werk Célestin Freinets bestimmt wird, sondern erstens, ausgehend von diesem Begriff auch Fragen an dieses Konzept von Célestin Freinet möglich werden und zweitens kann jetzt nach dem Einfluss von Élise Freinet genauer gefragt werden. Paul le Bohec weist ja unmissverständlich darauf hin, dass die Freinet-Bewegung nur existiere, weil Élise und Célestin Freinet ein sich ideal ergänzendes Gegensatzpaar gewesen seien3. Es wird auch die Einseitigkeit deutlich: Die Freinet-Pädagogik begegnet dem Leser - wie zumeist - als die Pädagogik von Célestin Freinet. Der Einfluss von Élise Freinet wartet noch auf seine Würdigung.

    Die Rezension

    Renate Kock leitet ihr Buch mit diesen Worten ein:
      "Im Zentrum der Pädagogik Freinets steht das Lehren des Lernens. Alles Lehren und Lernen ist tâtonnement expérimental: experimentelles Tasten, das zugleich das Werden und Verhalten jedes einzelnen, jeden wissenschaftlichen Fortschritt und die ganze menschliche Geschichte begründet.4"
    Damit weist sie darauf hin, dass sie kein spezielles Buch für Grundsschule schreibt, wie der Reihentitel suggeriert. Wenn sie von 'Lehren' schreibt, nimmt sie Bezug auf die "neue Vorstellung vom Lehren", das dem tâtonnement expérimental zu Grunde liegt. Sie macht deutlich, dass bei Célestin Freinet die LehrerIn nicht mehr 'Vermittler von Wissen' und Schule nicht mehr die 'Institution für systematische Wissensvermittlung' ist. Diesen Unterschied muss man immer mitdenken, wenn sie von Lehren und vom Lehr-Lern-Situationen schreibt. Sie untersucht auch das 'methodisch-didaktische Handeln der LehrerInnen' nicht aus der traditionellen, sondern aus der 'konstruktivistischen Dimension'. Diesen Begriff kann Célestin Freinet noch nicht benutzen, aber man kann Renate Kock durchaus folgen, wenn sie das Schmieden des Kindes an seiner Lebenskette - wie sich Célestin Freinet sehr bildhaft ausdrückt - als 'aktives konstruieren' im konstruktivistischen Sinn bezeichnet5. Vor allem das gilt es immer im Blick zu halten.

    Die 'neue Vorstellung vom Lehren', die Célestin Freinet entwickelt hat und der Renate Kock in diesem Buch nachgeht ist in Wirklichkeit ein Grundsatzbeitrag gegen die einseitig an der Vermittlung von vorgegebenen Stoff orientierten Pädagogik heute.

    Im Kapitel 2 wird der Begriff 'tâtonnement expérimental' als "Grundbegriff der Theorie Freinets in seiner kontruktivistischen Dimension" untersucht. Dabei wird die Auseinandersetzung zwischen den Behaviouristen - Pawlow - und Piaget und Ernst von Glasersfeld nachgezeichnet. Das Kapitel 3 untersucht die experimentelle Pädagogik Freinets. Sein Forschungsprojekt: Pour la connaissance de l'enfant wird beschrieben und systematisch überprüft. Der "wissenschaftstheoretische Hintergrund der Pädagogik Freinets und seiner Theorie des tâtonnement expérimental"6 wird herausgearbeitet. Im Kapitel 4 wird das "didaktische Konzept Freinets, das der Theorie des tâtonnement expérimental zugrunde liegt"7 vorgestellt. Abschließend wird "dann die Bedeutung des tâtonnement expérimental für die unterrichtliche Lehr-Lern-Situation aufgezeigt."8 Sie arbeitet heraus, wie aus den individuellen Lernvorhaben der einzelnen Kinder der 'allgemeine Arbeitsplan' entsteht.



    Die Theorie des tâtonnement expérimental

    Renate Kock untersucht zunächst den Begriff. 1950 habe Célestin Freinet die Theorie des tâtonnement expérimental - die Theorie des experimentellen Tastens - zusammenfassend vorgestellt 9. Ursprünglich habe er den Begriff expérience tâtonnée (ertastete Erfahrung) verwendet, den aber 1966 in einer Neuauflage des ersten Bandes durch tâtonnement expérimental ersetzt. Unter diesem Begriff sei die Theorie Freinets heute allgemein bekannt.10

    Sodann zeichnet sie die Rezeption des Begriffes nach.

    Für G. Piaton (1974) - der Schwerpunkt habe aus seiner Sicht bei Freinet zunächst auf dem Tasten gelegen und 'expérimental' sei erst später von ihm hinzugefügt worden. Für Gerald Schlemminger (1996) und J. und E. Lemery (1996) sei expérience tâtonnée die erste Stufe eines Gesamtprozesses gewesen. M. Barré sehe in der Begriffsänderung (1996) eine Akzentverschiebung von Erfahrung zu Tasten. Élise Freinet kommentiere die Veränderung gar nicht, sie betone jedoch den experimentellen Charakter der Pädagogik von Célestin Freinet. Diese habe sowohl experimentelles Tasten oder Tasten verwendet, den Blick aber vor allem auf die konstruktive Dimension des Tastens gerichtet.11

    1950 sei auch - ohne überarbeitung - im 'essai de psychologie sensible' von Célestin Freinet zwischen expérience tâtonnée empirique (empirisch ertastete Erfahrung) und expérience tâtonnée méthodique et scientifique (methodisch und wissenschaftlich ertastete Erfahrung) unterschieden worden. Im Spätwerk werde von Célestin Freinet tâtonnement expérimental gleichberechtigt neben expérimentation scientifique (wissenschaftliches experimentieren) gestellt. Beide seien aus seiner Sicht die Voraussetzung für die apprentissage expérimental (die experimentelle Lehre). Die experimentelle Lehre müsse selbst als experimentelles Tasten gestaltet sein, um dem Lernrhythmus der Kinder entsprechen zu können.12

    In der Auseinandersetzung von Célestin Freinet mit den Aussagen von Iwan Petrowitsch Pawlow und Burrhus Frederic Skinner werde deutlich, dass Célestin Freinet nicht das Verstärkungslernen meine. Seine pädagogische Praxis bringe Individuum und Umwelt bzw. Individuum und Wissen in eine völlig neue Beziehung. Für Célestin Freinet sei wichtig, dass das Individuum in der Lage sei aus seinen Erfahrungen zu lernen und die Reaktion auf einen Reiz nicht immer die gleiche Reaktion auslöse. Das Individuum reflektiere und urteile über sein Verhalten.13 Weder Iwan Petrowitsch Pawlow noch Edward Lee Thorndike könnten erklären, wie ein Individuum sich merken kann, wie es reagiert hat. Für Célestin Freinet liege das an der Durchlässigkeit oder Offenheit für Erfahrung. Ohne diese bleibe alles Tasten nur eine mechanische Reaktion.14 Die Durchlässigkeit für Erfahrung erlaube es, nicht nur mechanische Tastversuche durchzuführen, sondern auch das Tasten gezielt, also Tasten intelligent einzusetzen.14 Edward Lee Thorndike habe dies in ähnlicherweise überlegt aber verworfen. Neuere behavioristische Forschungsergebnisse stützen diese Überlegungen aber.

    Für Célestin Freinet ist dieses intelligente Tasten die erste Stufe intelligenten Verhaltens. Intelligenz ist für Freinet nicht nur geistige und manuelle Fähigkeit, sondern eine Reaktionskraft, die mit traditionellen Konzepten nicht erfasst werden könne. Intuition sei eine extrem gesteigerte Durchlässigkeit für Erfahrung.16

    Lernen könne man sich wie das Schmieden einer Kette vorstellen. Das Individuum konstruiere seine Lebenskette aus seinen Erfahrungen. Beim Entstehen der Kette könnten auch durch Imitation übernommene Kettenglieder Verwendung finden. Das funktioniere aber nicht mehr, wenn die Kette schon fertig sei.17

    Renate Kock zeigt, dass die Lebenskette für Célestin Freinet nicht nur eine schöne Metapher ist, sondern dass in diesen Bildern auch der Unterschied zu Pawlow deutlich wird.

    Sie grenzt auch die Theorie von Célestin Freinet zu Jean Piaget ab. Jean Piaget schließe aus seinen pädagogischen Beobachtungen auf stufenweise Entwicklung des Zeitbegriffes bei Kindern, die durch Lehren bzw. lernen nicht verändert werden könne. Für Célestin Freinet dagegen ist es ein fortschreitender Konstruktionsprozess, in dem das Kind wieder und wieder Erfahrungen macht und reflektiert.

    Célestin Freinet bezeichne auch das Erlernen bestimmter Fähigkeiten, wie 'Saugen' oder 'Sprechen' nicht wie Jean Piaget als 'Herausbildung von Schemata', sondern als das 'Beherrschenlernen von Werkzeugen' (la maîtrise des outils) zur Konstruktion der eigenen Persönlichkeit.18

    Renate Kock fasst die Theorie von Célestin Freinet zum experimentellen Tasten in sieben Grundannahmen zusammen19 :
    1. Das Individuum ist aktiver Konstrukteur seiner Reflexe, seiner Lebensregeln und Lebenstechniken.
    2. Er erweitert das Element von Versuch und Irrtum um die Durchlässigkeit der Erfahrung, mit dem das Individuum Versuche durch Lernen intelligent beeinflussen kann.
    3. Experimentelle Lehre kann im Verständnis con Célestin Freinet als Versuch verstanden werden, die Zugänglichkeit zu eigenem Tasten und dem Tasten anderer zu fördern.
    4. Freinet bezieht nicht nur beobachtbares Verhalten, sondern auch nicht beobachtbare geistige Prozesse, wie Kreativität und Spontanität, mit ein.
    5. Lernen ist für Célestin Freinet nicht nur bloßes einüben durch Wiederholung und Lehren nicht nur das organisieren von Bedingungen, um Lernprozesse zu beschleunigen. Lehren und Lernen sind in den Lebenszusammenhang und damit in Konstruktionsprozesse der Lehrenden und Lernenden unterworfen.
    6. Intelligentes Tasten ist kein Modell des entdeckenden Lernens. Das Kind entdeckt nicht neue zusammenhänge sondern es konstruiert sie. Lernen ist also mehr als nur die passive und mechanische Aufnahme isolierter Fakten. Menschliche Reaktionen sind mehr als bloße Produkte von Verstärkungslernen.
    7. Lernen im Sinne des experimentellen Tastens ist ganzheitliches Lernen und umfasst mechanische, intelligente, emotionale und soziale Aspekte. Sprache ist hierfür das höchst entwickelte Werkzeug. Der Lehr-Lern-Prozess ist ein wissenschaftlicher Konstruktionsprozess.


    Die experimentelle Pädagogik (und das didaktische Konzept Freinets)

    Für Célestin Freinet sei Pädagogik keine Wissenschaft, die eine Anleitung gibt, eine Beschreibung von Methoden zusammenstellt, wie Lehrstoffe in optimierter Form an Kinder - unter Berücksichtigung ihrer besonderen Eigenheiten - vermittelt werden können. Weil das Leben selbst für ihn ein Prozess ist, der den "großen allgemeinen Gesetzen des Lebens"20 unterworfen ist, kann eine Pädagogik grundsätzlich nicht klassisch vorgehen: "Bestimmung des Gegenstandsbereiches und der betroffenen Wissenschaften, Bearbeitung des wissenschaftlichen Gegenstands in Gegenstände21 einer gesteuerten Vermittlung, Verarbeitung zu Unterrichtsgegenständen". Solche willkürlichen und autoritären Eingriffe in die Dynamik des Lebens behindern diese Dynamik. Sie verursachen ein 'Gefühl der Unterlegenheit und Machtlosigkeit', einen tiefen Schmerz.22

    Die 'experimentelle Pädagogik' ist vielmehr der Versuch für jedes Menschen diesen Prozess der Auseinandersetzung mit 'der Wirklichkeit, der Umwelt und mit sich selbst' in den Blick zu nehmen und Unterricht zu planen, der nicht auf Lernziele im traditionellen Sinn ausgerichtet ist, sondern an den Kindern und ihren Lebensbedürfnissen. Da für Sinn und Ziel des Lebens von der Wissenschaft keine befriedigende Antwort gegeben werden kann, kann diese Antwort nur von jedem Menschen selbst gefunden werden.

    Experimentelle Pädagogik - und das ist das experimentelle an ihr - ist immer wieder aufs Neue aufgerufen, herauszufinden, wie für jedes einzelne Kind dieser Prozess der Auseinandersetzung unter Berücksichtigung seiner ganz individuellen Voraussetzungen ermöglicht werden kann. Das herausfinden ist keine hellseherische Leistung der LehrerIn im häuslichen Arbeitszimmer, sondern ein lebendiger Prozess in der Klasse, an dem sich jedes Kind beteiligen und einbringen kann.

    Um das plastisch, praktisch verständlich zu machen, wie Freinet seinen Unterricht gestaltet, beschreibt Renate Kock, wie diese Erfahrungsebene eines Kindes zur Strukturebene und schließlich zur Lehr-Lern-Ebene wird23 : 'ein Kind beschreibt einen lustigen Nachmittag mit andern Kindern im Garten. Sie hantieren mit Schläuchen, blasen hinein, werden nass, weil die Schläuche voll Wasser sind und sind verblüfft, wie viel Kraft es erfordert, einen Schlauch zuzuhalten, wenn er am Wasserhahn angeschlossen ist.'

    Aus dieser Erfahrungsebene wird die Strukturebene. Sie stellt die Arbeit der LehrerInnen, ihre Kooperation untereinander und die ständige Rückkopplung von Unterricht, Fort- und Weiterbildung und Forschung dar. Aus ihr entstehen Unterrichsmaterialien und ein allgemeiner Arbeitsplan.

    Aus diesem allgemeinen Arbeitsplan werden zwei Kategorien angesprochen: A) die Tätigkeiten des Landarbeiters und B) die Natur beherrschen. Zu jeder dieser Kategorien gibt es überlegungen, die den Unterricht vorstrukturieren: Arbeitsvorhaben, Arbeitsspiele (kommunizierende Röhren, Pumpe, Spritze), ergänzende Spielarbeiten (Blasrohr, Lieder, Ratespiele, Sprichwörter), Kenntnisse (Gemüsesorten, das Gießen, die Geschichte der Bewässerung, Wasserpumpe, Feuerspritze und schließlich die entsprechenden Brevets (die zu erwerbenden Diplome).

    Die Lehr-Lern-Ebene, d.h. der konkrete allgemeine Arbeitsplan mit den Arbeitsvorhaben, die realisiert werden sollen und mit der Auswertung dieser Aktivitäten, wird mit den SchülerInnen gemeinsam erstellt. Renate Kock spricht hier von einer 'Didaktisierung der Freien Texte'. Dazu gehören Fragen, wie: Warum wollte René in die Schläuche hineinsprechen? Warum wurde Pedro nass, als René hineinblies? Warum der Druck des Wassers, wenn der Schlauch am Wasserhahn angeschlossen ist? Warum muss gegossen werden? Welche Bewässerungssysteme gab es schon? Sind die hier nur im Auszug genannten Fragen gestellt, werden sie mit den Kindern nach ihrem Interesse ausgewählt (Renate Kock sagt: reduziert) und strukturiert. Der wichtigste Schritt folgt: Die Umsetzung der geplanten Arbeitsvorhaben: 'einzeln, zu zweit oder in Gruppen'. Der letzte Schritt ist die Präsentation der Arbeitsergebnisse durch die SchülerInnen.

    Im Forschungsvorhaben 'Pour la connaissance de l'enfant' waren ca. zweihundert Kinder und 100 Eltern beteiligt. Es wurden 5 Beobachtergruppen unter der Leitung von Pierre Cabanes gebildet, die die Hypothesen, die auf der Grundlage der Theorie des experimentellen Tastens gebildet worden waren, zu überprüfen und mit dem Verhalten der Kinder zu vergleichen.24

    Die Ergebnisse werden im Dezember 1952 von Pierre Cabanes und Célestin Freinet für die ersten beiden Arbeitsgruppen (Kinder von 0 - 2 Jahren) veröffentlicht.25 C. Freinet und P. Cabanes können mit diesen Untersuchungen nachweisen, dass schon die ersten Wortschöpfungen beim Sprechenlernen des Kindes kreativ, konstruktiv und kommunikativ auf den Erfahrungen des Kindes aufbaut und nicht auf einem 'angeborenen Spracherwerbsmechanismus' (vgl. Mussen, RK) oder einer 'angeborenen kognitiven Informationsverarbeitenden und motivationalen Prädisposition' (vgl. Mussen, RK) beruht.

    Bei der Begriffsbildung erklärt Renate Kock zunächst die Position des bedeutenden russischen Psychologen Lew Semjonowitsch Wygotskis (* 1896 -   1934). Im Gegensatz zu ihm unterscheide Célestin Freinet nicht zwischen alltäglichem und wissenschaftlichen Begreifen, sondern zwischen
      "eigensprachlichen, erfahrungsorientierten oder lebensweltlichen Erkenntnissen und Wörtern, die Beziehungen zum Ausdruck bringen, von denen das Kind noch kein experimentelles Bewusstsein hat, Wörtern, hinter denen das Kind keinen einfachen Sachverhalt und keine einfache Erfahrung ausmachen kann und die gleichsam Wort-Werkzeuge einer zweiten Stufe darstellen und als Begriffe bezeichnet werden."26
    Er betrachte die Begriffsbildung als individuelle und soziale Konstruktion des Kindes. Begriffe sind individuelle Wort-Werkzeuge eines Kindes. Freinet argumentiere ganz konstruktivistisch: Die individuelle Bedeutung eines Begriffes sei nicht identisch mit der Bedeutung dieses Begriffes für ein anderes Individuum. (es gibt keine Möglichkeit des direkten Vergleichs. Ernst von Glasersfeld prägt gegen Ende des Jahrhunderts den Ausdruck: Intersubjektivität dafür, wenn ein Begriff von mehreren Menschen mit einer ähnlichen Bedeutung benutzt wird. JG) Célestin Freinet weise auf die Gefahr hin, dass durch diese Unschärfe das Bewusstsein davon verloren gehen könne, dass ein Begriff das Leben nicht genau erfasse. Das Leben sei anders, differenzierter und umfassender.27

    Renate Kock stellt das 'Profil Vital' vor. Es handelt sich um eine Einschätzskala, ein 'persönliches Profil', von 129 Items, das Verhaltensweisen von Kindern jährlich erfasst. Célestin Freinet habe es in Abgrenzung zu den traditionellen Tests entwickelt. Ihnen liegt keine im Vorfeld definierte Norm zugrunde. Es verblüfft allerdings, dass fast alle Kategorien 'Unzulänglichkeiten' festhalten. In der Abbildung sind die einzelnen Items durch eine Linie miteinander verbunden. Es ist ein schematischer Katalog mit der Stufenskala von 1 bis 10. Eine Analyse dieser Items und die Beurteilung, ob Célestin Freinet damit wirklich eine Abgrenzung zu traditionellen Tests gelingt, steht noch aus. Die Darstellung jedenfalls scheint zu einer Normierung, zu einem Vergleich der Profile aufzufordern. Die Items könnten gut mit den schulischen Leistungen in eine diese erklärende Beziehung gesetzt und auf Reliabilität und Validität überprüfen werden. Aber das will Célestin Freinet ja gerade nicht.

    Es folgt ein Einschub über den historischen Kontext der Schulentwicklung. Er spielt im Fortgang der Erörterung zur experimentellen Pädagogik keine Rolle.

    Es wäre wünschenswert gewesen zu erfahren, welche Bedeutung das 'Profil Vital' und die Erläuterungen zur historischen Schulentwicklung in der Untersuchung von Renate Kock haben.

    Wenn Kinder Schreiben und Lesen lernen, gehe es aus der Sicht von Célestin Freinet immer zuerst darum, dass ein Kind sich ausdrücken will, dann um die Kommunikation mit anderen Menschen und schließlich darum, wie das Kind mit diesen Fähigkeiten seine Identität konstruiert. Er stelle sich mit dieser Reihenfolge gegen die traditionelle Methodik, die zuerst Lesen, dann Schreiben und schließlich zum Denken kommt. Célestin Freinet sehe als ersten Schritt der Kinder das Erlernen der Sprache. Im zweiten Schritt drücke sich das Kind durch Malen und Zeichnen aus. Dies sei eine Vorform des Schreibens.28 Aus dem 'Gekritzel' schälten sich langsam Buchstaben und Worte heraus.29 Das Kind übe nicht korrekte Wort ein, übe nicht die 'richtige Rechtschreibung', sondern konstruiere immer besser die 'offizielle graphische Figur' eines Wortes. Erst der dritte Schritt sei das Lesen. Die Konstruktion der graphischen Figur von Worten bedeute, dass die Kinder diese Figur eines Wortes erkenne, um sie mit der graphischen Figur des von ihnen geschriebenen Wortes vergleichen zu können - und das ist Lesen. Wenn ein Kind ein Wort beim Lesen buchstabiere, habe es 'den Sinn nicht verstanden'30

    Célestin Freinet sei der Auffassung, dass die traditionellen mechanistischen Methoden es den Kindern ermöglichen, Worte durch buchstabieren zu erlesen, dass aber wenn der Sinn der Worte unbegriffen bleibt Kinder nicht lesen können.31 Weder Rechtschreibung noch Grammatik sei für Célestin Freinet eine Voraussetzung um sich ausdrücken zu können.32

    Renate Kock macht darauf aufmerksam, dass für Célestin Freinet der Begriff 'Methode' eine andere Bedeutung habe als in der traditionellen Pädagogik: Methode sei kein Verfahren mit dem Kind und Lerngegenstand unabhängig von seinem Interesse und seinen Lernbedürfnissen in eine unterrichtliche Beziehung gebracht werden. Methode sei eine Richtung, ein Weg, die/den ein Kind gehe, wenn es seine Lebenswelt konstruiere und von MitschülerInnen und LehrerIn dabei begleitet bzw. unterstützt werde. Technik, im Zusammenhang mit Lernen, sei bei Célestin Freinet die Art und Weise, wie ein Kind experimentelles Tasten zur Konstruktion seines Weltbildes einsetze.33

    Renate Kock arbeitet durch die Kritik von Henri Wallon (Mediziner und Psychologe) an der Auffassung von Célestin Freinet heraus, dass dieser - ganz konstruktivistisch gesehen - dem Kind nicht eine Position gegenüber der Welt zuweist, sondern dieses als Teil eben dieser Welt ansieht. So gibt es auch keine objektive, 'richtige' Sicht der Dinge, wie das in Lehrbüchern gerne vorgegaukelt werde, sondern immer nur eine subjektive Sichtweise. Wissen sei nie objektiv, sondern sei immer eine subjektive Position, die von einem Menschen individuell erarbeitet werden müsse. Dieses Einnehmen eines (konstruktivistisch gesehen: nicht möglichen) 'objektiven' Standpunktes im schulischen Unterricht stünde ja im Gegensatz zum 'subjektiven' Standpunktes von Kindern. Sie erläutert, dass Henri Wallon kritisiere, man könne nicht zwischen 'nützlich' und 'wahr', sondern nur zwischen 'künstlich' und 'wirklich' unterscheiden - sie versucht aber nicht zu klären, ob diese Unterscheidung durch den von Ernst von Glasersfeld angebotenen Begriff der 'Viabilität' die unterschiedlichen Sichtweisen von Henri Wallon und Célestin Freinet verdeutlichen kann. Die Auseinandersetzung zwischen dem Mediziner und dem Pädagogen könne so als erkenntnistheoretisches Problem interpretiert werden. Die radikal-konstruktivistische Position, nach der ein 'neutraler Standpunkt eines Beobachters' nicht möglich ist, weil der Beobachter immer selbst auch Teil der Welt ist und er damit einen immer einen subjektiven Standpunkt hat, wurde aber erst 20 Jahre nach dem Tode Freients von Ernst von Glasersfeld im Zusammenhang formuliert. Renate Kock konstantiert zwar ein unterschiedliches Wissenschaftsverständnis zwischen Henri Wallon und Célestin Freinet, führt das aber auf die Unterschiedlichen Auffassungen von Pädagogik zurück. Für Henri Wallon sei die Pädagogik ein Praxisfeld der Psychologie, für Célestin Freinet sei sie "eine Wissenschaft, deren erste Bedingung die Praxis ist."34


    Das didaktische Konzept Freinets
    Renate Kock stellt die ähnlichkeit von Reformpädagogen und radikalen Konstruktivisten heraus, "wenn sie das lernende Kind in den Mittelpunkt stellen und Lernen als Konstruktion der inneren Welt verstehen, als einen Prozess, der von Außen beeinträchtigt, aber nicht wirklich gefördert werden kann."35
      "Der freie Ausdruck im didaktischen Konzept Freinets grenzt sich ab von einem spontanen, freischöpferischen, entdeckenden und kindzentierten [...] Lehren und Lernen mit seinen Forderungen, das kreative Potential des Kindes selbst zur Entfaltung zu bringen, erlebbare Inhalte schöpferisch und eigengestalterisch zu nutzen36 und fächerübergreifend und stilbildend den ganzen Menschen zu ergreifen und zu verändern"37 .
    Es wird jedoch deutlich, dass die Gliederungsschritte des freien Ausdrucks - und das ist nicht Renate Kock anzukreiden - schon auf der Erfahrungsebene den freien Ausdruck auf den freien Text lenken: - Individuelle Textproduktion, - öffentliche Präsentation im Hinblick auf die Veröffentlichung und deswegen auch die kollektive Arbeit am Text, der Druck de Textes und die Veröffentlichung im Buch des Lebens, der Klassenzeitung, der Schulzeitung, der Klassenkorrespondenz und in Fachzeitschriften - La Gerbe, Art Enfantines, - die Zuordnung des freien Textes zum allgemeinen Arbeitsplan und damit die Planung und Durchführung und Auswertung von Arbeitsvorhaben und schließlich - die Arbeit am individuellen und allgemeinen Arbeitsplan.

    Wenn Célestin Freinet den Prozess des Lebens mit einem Strom von der Quelle bis zur Mündung vergleicht, um die Dynamik des Lebens deutlich zu machen38 , ist die Fokussierung des Freien Ausdrucks auf den Freien Text nur teilweise verständlich. Alle anderen Formen des Freien Ausdrucks: künstlerisch, musisch, ... werden nicht mehr mitgedacht. Malen und Zeichnen nur als 'Vorform des Schreibens' zu verstehen, wie Célestin Freinet es tut, ist jedenfalls eine deutliche Verengung und Einschränkung des Blickwinkels.

    Es verblüfft, dass der Freie Ausdruck von Célestin Freinet im Grunde zu einem Synonym für den Begriff 'Freier Text' wird. Das verwundert, weil in der Theorie des experimentellen Tastens diese Engführung nicht angelegt zu sein scheint. Ich frage mich, ob er hier nicht einer ganz selbstverständlichen scheinenden Sichtweise von Schule folgt, die mit allem, was nicht aus Buchstaben und Zahlen aufgebaut ist, herzlich wenig anfangen kann. Élise Freinet selbst beschreibt in ihrem Buch unter der überschrift: 'Die eigenen Texte drucken', wie Ludwig in der Klasse seinen Freien Text vorträgt und sich bei seinem Vortrag offensichtlich nicht an seinen Text hält, sondern sein Erlebnis frei schildert:
      "Und dieser kleine ängstliche Kerl, der sich nicht getraut hätte, laut zu lesen, will nicht mehr aufhören zu sprechen. Er hebt stolz seinen Kopf, seine Augen leuchten."39
    Élise Freinet betont im Kontext, dass es wichtig sei, "Ludwigs Erzählung so getreu wie möglich und natürlich in gutem französisch niederzuschreiben."40 Natürlich ist die übersetzung von dem Dialekt in Le Bar-sur-Loup in 'gutes Französisch' im Beisein von Ludwig aus schulischer Sicht notwendig (s.u. S. 13) - aber der 'Freie Ausdruck', der Originaltext den Ludwig gesprochen hat und der sein ganz persönlicher freier Ausdruck, der die Veränderung in Ludwig bewirkt hat, ist verloren. Wahrscheinlich hätte Ludwig, hätte er 'gutes Französich' sprechen müssen, gar nichts gesagt. 'So getreu wie möglich' wäre eben nicht 'gutes Französisch', sondern der Dialekt in Le Bar-sur-Loup gewesen. Streng genommen steckt in dieser Umformulierung in 'gutes Französisch' die Botschaft an Ludwig: 'So, wie Du sprichst, bist Du nicht richtig. Du sprichst kein gutes Französisch, sondern nur Dialekt'. Vielleicht hätte Élise Freinet statt von 'natürlich in gutem Französisch' besser von der Notwendigkeit gesprochen, den Originaltext von Ludwig so zu überarbeiten, dass er für die Klassenkorrespondenz oder einen Abdruck in La Gerbe verwendet werden kann, Dann würden ihn ja auch Menschen lesen und verstehen wollen, die 'Bar-sur-Loup-Platt' weder sprechen noch verstehen können.

    Renate Kock folgt entsprechend ihrer Zielsetzung jedenfalls der Sichtweise Célestin Freinets und damit seiner Reduktion des Freien Ausdrucks auf den Freien Text.
      "Der freie Text im Konzept Freinets ist an Voraussetzungen gebunden: der freie Text muss wirklich frei sein, er muss motiviert sein sowie Mittelpunkt und Ausgangspunkt der schulischen Arbeit bilden. (Vgl. Freinet, C.: La texte libre. Bibliothque de l'ecole Moderne (BeM), Cannes: Coopérative de l'enseignement laie 1967, S. 12ff). Damit können dem freien schriftlichen Ausdruck in der Praxis Freinets vier Funktionen zugeordnet werden:
      1. eine expressive Funktion
      2. eine kommunikative Funktion
      3. eine regulative Funktion
      4. eine unterrichtliche Funktion"41
    Die expressive Funktion meint, dass sich die "SchülerInnen [...] ohne jegliche Vorgabe frei ausdrücken können und völlig frei [...] in der Wahl der Arbeitsmittel, in der Wahl der Themen und der Gestaltung ihrer Texte"42 sein sollen. Es sei das "ursprüngliche Bedürfnis des Kindes, sich auszudrücken, seine Gedanken und Gefühle [...] in Worte zu fassen."43 Damit wende sich das Kind/der Mensch aber immer an andere. Sein wichtigstes Anliegen ist, von diesen anderen verstanden zu werden. Das Ausgedrückte - die Gedanken und Gefühle - muss daher entsprechend formuliert werden, nämlich so, dass - wieder konstruktivistisch verstanden - diese anderen verstehen können, was das Kind ausdrücken wolle. So erkläre sich, dass die ersten, die Freinet verstanden und ihm zustimmten Künstler und Schriftsteller waren, die genau dieses Problem ebenfalls hatten.44

    So verständlich das auch klingen mag, man kann seine Gedanken und Gefühle nicht nur in Worte fassen. Man kann sie auch spielen, malen, in Klänge umsetzen, tanzen, ... . Babies beherrschen diese Kunst, ohne Worte auszudrücken was ihnen wichtig ist, international. Ebenso Musiker, Maler, ... .

    Mit der kommunikativen Funktion ist gemeint, dass ein Text, der veröffentlicht wird auch so formuliert sein muss, dass er auch ohne die Kenntnis des Autors und seiner Situation verstanden werden kann. Nur dann könne er auch zu einem Kettenglied, und könne von anderen in deren eigene Kette eingebaut werden. Célestin Freinet habe daher ganz systematisch die interschulische Klassenkorrespondenz und die Kinderzeitungen aufgebaut: La Gerbe und Enfantines, beides Zeitungen, die fast nur aus Beiträgen von Kindern für Kinder bestand. Aus ihnen entstand La BTJunior (1965) und später J Magazin (1979).45 Zum einen bestand so die Notwendigkeit, Texte in der beschriebenen Qualität zu verfassen, 'Bar-sur-Loup-Platt' zu überarbeiten ohne die Veränderung des Textes mit einer herabsetzende Botschaft zu verknüpfen. Zum anderen vergrößerte sich so der Kreis derer, die an einer gemeinsamen Konstruktion ihrer Welt arbeiteten und damit verbreiterte sich auch die Basis dieser gemeinsamen Konstruktion.

    Mit der regulativen Funktion des freien schriftlichen Ausdrucks ist gemeint, dass die weitere Bearbeitung eines freien Textes einen erheblichen Einfluss auf das soziale Gefüge der Klasse hat. Es wird ja nicht irgendein Lehrstoff bearbeitet, sondern ein Geschehen, das seinen Ursprung in einem Text einer SchülerIn und damit, um es reformpädagogisch auszudrücken, in ihrer Lebenswelt hat. Das was gelernt wird ist also nicht abstrakt wichtig, weil man sich - wenn auch in demokratischen Prozessen - auf die Wichtigkeit geeinigt hat, die sich aber für SchülerInnen meist nicht wirklich erschließt, sondern es hat eine konkrete Verbindung mit einem der Klassenmitglieder und hat damit in der Lebenswelt der Kinder in der Klasse - nicht automatisch für alle Kinder - eine Bedeutung.

    Mit der unterrichtlichen Funktion des freien schriftlichen Ausdrucks ist nun der Kern von Schule erreicht: der Lehr-Lern-Prozess. Zur Erinnerung: Damit ist nicht der Lehr-Lern-Prozess im heutigen Sinn gemeint! Mit den freien Texten werde "das Leben und die Welt der Kinder"46 zum Ausgangspunkt des Lernens im Unterricht. Célestin Freinet begegnet damit dem Vorgehen der traditionellen Schule, die das Kind mit einer zwar sachlogischen Welt konfrontiert, die aber nur zufällig Bezug zur Erfahrungswelt dieses Kindes hat. Die Lernwelt der traditionellen Schule stehe daher meist beziehungslos neben der Lebenswelt des Kindes.47 Die traditionelle Schule kultiviere ein vermeintlich objektives Bild von Welt, und wolle auch 'definitives Wissen' über sie vermitteln. Sie übersehe aber, das alles Lernen sozial und subjektiv sei. Für ein Kind, für jeden Menschen, erschließe sich die Welt nicht über die Struktur der Dinge sondern über das experimentelle Tasten und die Erfahrung daraus.48

    In Schulen heute, die ihr Lernen am Interesse der Kinder ausrichten, steht der traditionelle Lehrplan als Referenzgröße im Hintergrund. Wenn es um die Beurteilung geht, ob eine SchülerIn das Klassenziel erreicht hat oder nicht, orientiert sich selbst Falko Peschel im Offenen Unterricht an den Lehrplaninhalten der jeweiligen Klassen49 - einem Kind wird bescheinigt, dass es das Ziel der 3. Klasse nicht erreicht hat, es wird aber auf Grund der positiven Entwicklung trotzdem versetzt, weil der Verbleib in der offen lernenden Klasse eine bessere Fördermöglichkeit verspricht.

    Wie Célestin Freinet die Versetzung handhabte, wird in der Untersuchung von Renate Kock nicht berichtet, sie hat ein anderes Ziel. Zum einen gibt es für jedes Kind einen 'individuellen Arbeitsplan', der an seinen Lerninteressen ausgerichtet ist und der also nur als Dokumentation dieser Interessen entstehen kann.

    Dann gibt es den 'allgemeinen Arbeitsplan', der sich jedoch nicht am traditionellen Lehrplan orientiert.
      "Der allgemeine Arbeitsplan richtet sich gegen den Lehrgang und die ihm in enzyklopädischer Ordnung entsprechenden Schulbücher und damit zugleich gegen die Vorstellung, didaktisch aufbereitetes Wissen auf lineare Weise in die Köpfe der SchülerInnen transportieren zu müssen. (Vgl. Pour un plan général du travail L' E 10/Febr/1947, S. 218, 219; Notre plan général de travail. L' E 1/Okt/1947, S. 13-15).50
    Es geht darum die traditionellen Schulbücher und Lehrgänge zu ersetzen.51 Die Kinder sollen lieber ihr eigenes bereits vorhandenes Wissen erproben, und sich damit auch neues Wissen und Können erarbeiten.52

    Im Allgemeinen Arbeitsplan wird die Komplexität des Lebens in drei Bereiche unterteilt: 1. Das Leben erobern - Renate Kock nennt Berufe wie Kletterer, Pflücker, Jäger, Fischer - 2. das Leben bewahren - sich schützen, sich bedecken, sich pflegen, die Natur und Tiere beherrschen - und 3. das Leben weitergeben - Familie, Gesellschaft, der Mensch inmitten des Lebens53 . Mit diesen Bereichen sind Interessenzentren verknüpft, die wieder in vier 'Sparten' unterteilt sind.

    Die Interessenzentren werden bei Renate Kock so beschrieben: Gemeint sind die Interessen der Kinder:
      "Unsere Korrespondenz, Ferienerinnerungen [...] unser Dorf, der Honig, Ackerbau und Saat, die Jagd, die Zugvögel, Oktoberzeit, erste Sprösslinge und erste Blumen, erste Feldarbeiten, der Vorfrühling. Heute hieße das möglicherweise: die Vielfalt der Kinderwelten, die Vielfalt der Lebensauffassungen und Kulturen - nicht im Sinne eine Pluralismus der Oberflächenbuntheit [...], sondern lebenserobernd mit einem mehrperspektivischen Blick auf Wirklichkeit, lebensbewahrend mit Blick auf die Erhaltung des Lebens auf diesem Globus überhaupt [...]."54
    Die Interessenzentren sind keine Vorgaben, sondern werden aus den "subjektiven und sozialen Wirklichkeiten und subjektiven Wissens der Kinder und Jugendlichen in Form von Freien Texten und Beiträgen in Schülerzeitungen"55 erarbeitet.

    In den 'Sparten' sind "mögliche Arbeitsvorhaben (activités fonctionnelles), zugehörige Techniken und Arbeitsmittel (techniques) zu finden, auf die Fächer Französisch, Rechnen, Wissenschaften, Geographie und Geschichte bezogene Dokumente (connaissances) [...] zu finden sind."56 Gemeint sind Materialien, wie "Lesekarten, Auszüge aus Werken großer Dichter, Gedichte, Lieder, Diktate"57 ... sowie die brevets, die Diplome (in der direkten Übersetzung, die Führerscheine im heutigen pädagogischen Sprachgebrauch).

    Renate Kock ist mit ihren Erklärungen hier ein wenig knauserig. Sie will ja auch den Begriff des 'tâtonnement experimental' im Werk Freinets bestimmen, weniger den 'Allgemeinen Arbeitsplan'. Trotzdem gibt sie ausführliche Hinweise auf die Ausführungen Célestin Freinets zu diesem Thema im L'educateur.

    Auf der Erfahrungsebene wird der Freie Text nach folgenden Kriterien untersucht: "literarische Form, Sprachlehre und Rechtschreibung, künstlerische Form, Aufmachung, Illustration" . Es geht darum, für alle die "Nöte, Strebungen und Hauptinteressen"58 deutlich zu machen. Freinet ist der Auffassung, dass ein ausgewählter Text etwas enthalten muss, was die Kinder besonders anspricht. Es geht nicht um brauchbare oder unbrauchbare Texte, sondern um genau dieses herauszufinden und bewusst zu machen. Nicht nur die 'besten', sondern alle Texte sollen "eine unterrichtliche und schulische Bedeutung erlangen"59 . Es geht dabei nicht darum, dass jedes Kind auch seinen Text gewürdigt sieht, sondern darum, dass in jedem Text spezielle Interessen dieses einen Kindes stecken, die die Lebenswelt aller Kinder der Klasse - nicht aller Kinder überhaupt - betrifft und daher die Möglichkeit verloren ist, diese Interessen in den Mittelpunkt zu stellen und zum Gegenstand des Unterrichts in dieser Klasse zu machen.



    Fußnoten:

    1 Bennack, Jürgen (2001): Vorwort des Herausgebers der Reihe, in: Kock, Renate (2001), S. VII-VIII

    2 Martin, Jean-Pol (2000): Lernen durch Lehren: ein modernes Unterrichtskonzept. In: Schulverwaltung Bayern, Carl Link / Deutscher Kommunal-Verlag, 23. Jahrgang, März 2000, Nr. 3, S. 105-110. PDF (Aufgerufen am 13.7.2014 um 21.00 Uhr)

    3 Paul Le Bohec über Célestin und Élise Freinet und seinen eigenen Weg in der Freinet-Bewegung. Interview mit Paul Le Bohec von Peter Schütz auf dem RIDEF im Sommer 1990 in Finnland. Wiederaufgefunden, transkribiert und übersetzt von Marie-Claude Flügge. Layout und Nacharbeiten: Hartmut Glänzel, in: Fragen und Versuche, Heft 128/Juni 2009, S. 57, ähnlich in: Jochen Hering, Walter Hövel (1995): '... wenn man falsch anfängt, dann wird die Sprache nicht genug entwickelt ...', Collage aus einem Interview mit Paul Le Bohec im Sommer 1990 in Finnland in: (dieselben): Immer noch der Zeit voraus, S. 233

    4 Kock, Renate (2001): S. 1

    5 Vgl. Ebenda, S. 19

    6 Ebenda, S. 5

    7 Ebenda

    8 Ebenda

    9 Gemeint ist sein zweibändiges Werk: Freinet, Célestin (1950): 'Essai de psychologie sensible appliquée à l'éducation', CEL

    10 Vgl. ebenda, S. 7

    11 Vgl. ebenda

    12 Vgl. ebenda, S. 8

    13 Vgl. ebenda, S. 18

    14 Vgl. ebenda, S. 17

    15 Vgl. ebenda, S. 18

    16 Vgl. ebenda, S. 18f

    17 Vgl. ebenda, S. 20f

    18 Vgl. ebenda, S. 27

    19 Vgl. ebenda, S. 31f

    20 Ebenda, S. 36

    21 Ebenda, S. 70

    22 Vgl. ebenda, S. 37

    23 Vgl. ebenda, S. 83ff

    24 Vgl. ebenda, S. 42

    25 Freinet, C. und Cabanes. P. (1952): Connaisance de l'enfant sur la base des principes de l'Essai de psychologie sensible, in: Connaissance chures d'éducation nouvelle popu-laire PDF

    26 Kock, Renate (2001): S. 53

    27 Vgl. ebenda, S. 51f

    28 Die Erzieherin Rosy Henneberg hat sich im Kindergarten den Kindern als 'Schreibmaschine' zur Verfügung gestellt, weil die Erwachsenen das, was die Kinder aufschreiben, nicht lesen können. Sie hat als Schreibmaschine diese Lücke für die Kinder geschlossen und in für Erwachsenen lesbarer Schrift das aufgeschrieben, was die Kinder aufschreiben wollten. Dabei hat sich gezeigt, dass Kinder zwar noch nicht so schreiben können, dass die Erwachsenen das auch lesen können, aber sehr wohl schon wissen, was sie schreiben wollen.

    29 Die eigene 'phonetische Konstruktion' folgt natürlich nicht orthografischen Regeln, sondern Kinder Verschriften lautgetreu. Es wäre interessant die schriftliche Wortbildung wie sie von Célestin Freinet analysiert worden ist mit den Aufzeichnungen von Falko Peschel zu vergleichen, die er in den Fallstudien aus dem Offenen Unterricht in Bezug auf die Verschriftung der Texte der Kinder beschrieben hat.

    30 Vgl. ebenda, S. 64

    31 Daher können Kinder ihre selbst geschriebenen Freien Texte auch leichter lesen als Fibeltexte, zu denen sie keinen Bezug haben. Auch kinderfreundliche Fibeltexte sind zunächst für Kinder fremde Texte ohne wirklich emotionalen, kommunikativen und so-zialen Bezug. Ein Vergleich macht das deutlich: Fibeltext: 'Otto ist krank' oder Freier Text: 'meine Katze ist krank'. Dazu kommt noch, dass die die Worte, die sie schreiben, kennen. Siehe oben, die Auffassung von C. Freinet.

    32 Vgl. ebenda, S. 65

    33 Vgl. Ebenda, S. 67

    34 Ebenda, S. 69

    35 Ebenda, S. 71

    36 Vgl. Dietrich, Ingrid (1975): Geschichte der Pädagogik. 18. - 20. Jahrhundert, Bad Heilbrunn, S. 206

    37 Vgl. Boehneke, H.; Humbug, J. (Hrsg.): Schreiben kann jeder. Handbuch für Vorschule, Schule, Universität, Beruf und Freizeit, Reinbek, 1980, S. 88ff

    38 Vgl. Kock, Renate 2001: S. 37

    39 Freinet, Élise (1985): Erziehen ohne Zwang - Der Weg Célestin Freinets, München, ungekürzte Ausgabe, S. 41

    40 Ebenda

    41 Kock, Renate (2001): S. 73

    42 Ebenda

    43 Ebenda

    44 Vgl. ebenda

    45 Vgl. ebenda, S. 74

    46 Vgl. ebenda, S. 75

    47 Vgl. ebenda

    48 Vgl. ebenda

    49 Vgl. Peschel, Falko (2006), S. 883

    50 Kock, Renate (2001), S.79; Hervorhebung bei Renate Kock

    51 Vgl. ebenda

    52 Vgl. ebenda, S. 80

    53 Vgl. ebenda

    54 Ebenda, S. 81

    55 Ebenda

    56 Ebenda, S. 80

    57 Ebenda, S. 83

    58 Ebenda

    59 Ebenda