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Freinet-Pädagogik

Nominierung der Grundschule Harmonie

Expertengutachten zum Deutschen Schulpreis 2006

Dr. Falko Peschel


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Vorbemerkung

Die Grundschule Harmonie ist mir zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Gutachtens seit rund acht Jahren bekannt. Das, was ich vor einem näheren Kennenlernen der Schule sowohl über die Schule selbst als auch über den Schulleiter Walter Hövel gehört habe, hätte gegensätzlicher nicht sein können: auf der einen Seite hörte man von einer engagierten Schule, die der aktuellen Didaktik immer mehrere Schritte voraus zu sein schien, auf der anderen Seite wurde die Schule und ihre Leitung als "sehr schwierig" betrachtet. Erst mit der Zeit konnte ich dieses Rätsel auflösen: Schulinnovation verlangt von allen Beteiligten die Bereitschaft, Routinen und liebgewonnene Gewohnheiten zu hinterfragen und neue Wege zu gehen. Das kann - je nach Blickwinkel - auf Außenstehende als sehr positiv befreiend oder als sehr negativ beängstigend empfunden werden.

Stellung der Grundschule Harmonie in Lehreraus- und Fortbildung sowie als Initiator von Schulentwicklung

Ein näherer Kontakt zur Schule, zum Schulleiter und zu den Kollegen ergab sich dann im Rahmen des von mir und anderen 1999 in Zusammenarbeit mit der Universität Köln, dem Studienseminar Siegburg und dem Schulamt für den Rhein-Sieg-Kreis ins Leben gerufenen Projekt "Integrierendes Schulpraktikum Primarstufe", das durchaus als Vorläufer der später vom Ministerium umgesetzten Einrichtung von Praktikumsmanagern und der Stärkung der Praktikumsphasen in der ersten Ausbildungsphase bezeichnet werden kann. Im Rahmen der Etablierung dieses Projektes haben wir versucht, im ganzen Schulbezirk die Schulen bzw. Lehrer und Klassen zu finden, in denen die in den Richtlinien und Lehrplänen beschriebene Gestaltung von Schule als "Haus des Lernens" auch für Berufsanfänger am besten zu erleben war.

Um es kurz zu machen: Die Grundschule Harmonie ist nach kurzer Zeit der Favorit dieses Projektes geworden und wird seitdem ständig von Praktikanten der Universität zu Köln freiwillig und trotz teilweise stundenlanger Anfahrtswege (z.B. aus Aachen oder dem Bergischen Land) für ihr Praktikum ausgewählt. Eine ähnliche Bedeutung hat die Schule nach ersten von mir hergestellten Kontakten auch für die andere Universität im Großraum erlangt, die Universität Siegen, die auch seit nunmehr fast sieben Jahren Studierende an der Grundschule Harmonie ihr Praktikum absolvieren lässt.

Diese beiden Universitäten haben - wie auch die Universitäten Bremen, Koblenz und Frankfurt - mittlerweile feste Seminare etabliert, die an der Grundschule Harmonie durchgeführt werden. Weiterhin finden zeitweise auch Seminare anderer Universitäten (Osnabrück, Erfurt etc.) an der Schule statt, die sich aber meiner genauen Kenntnis entziehen. Zusammen mit den ständigen Hospitationsgruppen aus dem In- und Ausland sowie der Teilnahme an nationalen und internationalen Projekten (Comenius/ Demokratie etc.) ergibt sich eine Bedeutung der Grundschule Harmonie für die Lehreraus- und Fortbildung, die Ihresgleichen sucht. Und das weit über Deutschland hinaus.

Spätestens an dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass die Grundschule Harmonie eine besondere Schule ist. Sie ist deshalb eine besondere Schule, weil sie eine Regelschule ist, die schon kurz nach ihrer Gründung vor 10 Jahren den Charakter einer weit über das nähere Umfeld hinaus ausstrahlenden Schule bekommen hat, ohne den Status oder die Mittel einer Versuchsschule oder eines Schulversuches zu haben.

Jede andere Schule, die eine entsprechende stillschweigende Anerkennung als Motor für Schulentwicklung innehaben würde, hätte vermutlich auch entsprechende Unterstützung, um die hohe Belastung, die sich durch das tägliche Hospitieren von Einzelnen und Gruppen ergibt, zumindest ein wenig zu kompensieren. Die Grundschule Harmonie hat dafür keine Mittel, aber sie betrachtet sich als offene Schule, die immer bereit für Austausch und Kommunikation ist.

Es wäre illusorisch, in einem Gutachten wie dem Vorliegenden die Komplexität und das Facettenreichtum dieser Schule beschreiben zu wollen. Von daher möchte ich exemplarisch ein paar wenige, subjektiv ausgewählte Momente darstellen, von denen ich denke, dass sie die Grundschule Harmonie von anderen Schulen substanziell unterscheiden. Um die ganze Bandbreite der Leistungen der Grundschule Harmonie zu erfassen, sollte auf die Eigendarstellung der Schule durch das Kollegium zurückgegriffen werden.

Besonderheiten der Grundschule Harmonie - Schwerpunkt Schulklima

Wenn man Besucher der Schule nach dem fragt, was sie bei ihrem Aufenthalt vor allem berührt hat, so wird fast immer die besondere Atmosphäre der Schule genannt. Die Grundschule Harmonie scheint positiv in sich selbst zu ruhen, ohne dabei lethargisch zu wirken. Im Gegenteil, in allen Ecken und Winkeln findet man das reine Leben, denn die Kinder dürfen überall in der Schule und auf dem Schulgelände arbeiten - auch im Lehrerzimmer und im Büro des Schulleiters. Und obwohl alle Kinder an den unterschiedlichsten Sachen arbeiten - oder gerade deshalb -, herrscht eine Lernatmosphäre, die sehr beeindruckend wirkt. Lernen kann überall gespürt werden - und wirkt ansteckend. Und das bei einer Klientel von Kindern, von der in vielen wissenschaftlichen Untersuchungen behauptet wird, dass sie nur unter enger Anleitung im Lehrgang lernen könnte. Aber zum Lernen und zum "Unterricht" in der Grundschule Harmonie unten noch mehr ...

Was sowohl Eltern als auch Besucher weiterhin beeindruckt, ist sowohl die Gewaltlosigkeit als auch die Freundlichkeit und Offenheit der Kinder. Obwohl das Einzugsgebiet der Schule alles andere als einfach ist, gibt es kein Gewaltproblem an der Schule - und das ohne spezielle Programme, Therapien usw. Dafür ist vermutlich das starke Mitbestimmungsrecht der Kinder verantwortlich, die nicht nur in den einzelnen Klassen ihre Probleme und Konflikte selbstständig miteinander lösen, sondern sogar ein eigenes Kinderparlament bilden, das Entschlüsse für die Schule fällen kann bzw. von der Schulgemeinschaft mit dem Suchen von Vorschläge oder Lösungen beauftragt werden kann.

Besonderheiten der GSH - Schwerpunkt Selbstverantwortete Schule der Kinder und Lehrer

Institutionen wie Klassenräte und Kinderparlament liefern nicht nur einen Beitrag dazu, gewaltfreie Konfliktlösung zum Alltag werden zu lassen, sondern sie lassen die Kinder erfahren, dass es ihre Schule ist, in der sie sich bewegen. Die Kinder identifizieren sich sowohl mit ihrer Schule als auch mit ihrer Schulgemeinde - und das auf eine ehrliche Art, nicht als vorgegebene Erziehungsmaßnahme, wie z. B. als inszeniertes harmonisches Glied in der Montessori- oder Petersen-Pädagogik. Und genau das ist es, was eine Erziehung zu Verantwortlichkeit in demokratischen Systemen führt: Regeln werden nicht durch Vorgabe und auch nicht (nur) durch Vorleben zu eigenen Regeln, sondern durch Mitbestimmung, Auseinandersetzung, Abwägung usw.

Dass in der Grundschule Harmonie schon 6-jährige Kinder ganz selbstverständlich die Belange in ihrer Klasse und in ihrer Schule selber regeln, sucht seinesgleichen. Man findet zwar auch in anderen Schulen Institutionen, die "Klassenrat" genannt werden, diese bleiben aber allzu oft auf der Ebene lehrergelenkter Kreisgespräche stecken, in denen die Kinder nicht wirklich eine Lösung für ein Problem in der Klasse oder Schule suchen, sondern eher überlegen, was der Lehrer oder die Lehrerin denn nun hören will. Das ist in der Grundschule Harmonie nicht so, denn schon mehrfach gab es Beschlüsse, auf die Erwachsene gar nicht gekommen wären. Und dass diese funktionieren, zeigt das entspannte und kooperative Schulleben.

Ðber die Institutionen der Regelbildung hinaus, gibt es wöchentliche bzw. zweiwöchentliche Treffen der ganzen Schulgemeinde - einmal als Montagsversammlung, das andere Mal als Schulversammlung. Hier arbeitet die Schule daran (und sie sollte es weiter tun!), diese auch an anderen Schulen üblichen Formen weiterzuentwickeln und z. B. aus einem reinen Aufführungstreffen mit Geschichtenvorlesen oder Tanzvorführungen einen gegenseitigen Austausch auf einer ganz anderen Ebene zu machen, wenn z. B. einzelne Schuler Experimentideen vorführen oder Mathematikerfindungen präsentieren.

Dass das Arbeiten der Kinder in diesem Konzept auch ein selbstverantwortetes sein muss, liegt auf der Hand und wird unten noch genauer ausgeführt. Zu betonen im Vergleich mit anderen Schulen ist aber ganz besonders die selbstverantwortete Arbeit des Kollegiums. Während viele Schulen - in entsprechenden vom Land inszenierten Projekten - mittlerweile auf dem Weg zur "selbstständigen Schule" sind, so war die Grundschule Harmonie von Anfang an statt einer "selbstständigen Schule" (das lässt der Schulträger nicht zu) eine "selbstverantwortete Schule". Es ging dem Schulleiter nicht darum, die Schulleitung durch eine oft nicht weniger losgelöst vom einzelnen Lehrer operierende Steuergruppe mit besonderen Kompetenzen zu ersetzen, sondern bei jedem einzelnen Mitglied des Kollegiums die eigene persönliche Verantwortung für die Schule und ihren reibungslosen (oder reibungsvollen) Betrieb zu erzeugen.

In der Grundschule Harmonie hat jedes Mitglied des Kollegiums eine selbstgewählte Aufgabe, die sie für die Schule wahrnimmt: Ansprechpartnerin des Fördervereins, Erstellerin der Statistik, Organisatorin des Weihnachtsmarktes, Betreuer des Computernetzwerkes, Kontaktperson für die zuständigen Geistlichen der Gemeinde usw. Diese Einzelverantwortung wird auf den täglichen Schulbetrieb ausgedehnt, denn es gibt an der Grundschule Harmonie weder feste von der Schulleitung erstellte Stundenpläne noch die Zuweisung von Vertretungspflichten durch einen Vorgesetzten. Das selbstverantwortliche Miteinander der Lehrer und Lehrerinnen der Schule verlangt, die sonst üblichen und als unabdingbar erscheinenden Schulstrukturen aufzubrechen.

Deshalb treffen sich alle Lehrerinnen und Lehrer der Schule - einschließlich Sozialpädagogin, Lehramtsanwärtern, Praktikanten und oft auch Hospitanten - jeden Morgen eine Stunde vor Dienstbeginn zu einer Dienstbesprechung, in der Vertretungen abgesprochen, organisatorische oder didaktische Fragen geklärt und Arbeitsvereinbarungen getroffen werden. Diese Treffen garantieren durch das tägliche Stattfinden nicht nur einen reibungslosen Ablauf des Schultages, sondern sichern vor allem die Flexibilität des ganzen Schulsystems. Diese ist notwendig, damit der einzelne Mensch (Kind oder Erwachsener) immer im Mittelpunkt der Ðberlegungen bleiben kann, ohne dass es passieren könnte, dass man Anforderungen von außen nicht mehr gerecht würde.

Diese täglichen Treffen des Kollegiums werden ergänzt durch wöchentlich stattfindende Konferenzen, die Dank der täglichen Dienstbesprechungen ganz auf die inhaltliche Arbeit ausgerichtet werden können. Gemeinsam werden Themen festgelegt, Experten eingeladen, Schwerpunkte moderiert - eine Schule in ständiger Fortbildung und Selbstevaluation. Dabei schaffen nicht nur die Treffen der Schulgemeinschaft die Möglichkeit für einen detaillierten Austausch über alle Kinder der Schule, sondern auch die in bestimmten Abständen stattfindenden Kinderkonferenzen, in denen ein Lehrer oder eine Lehrerin sich mit den anderen über die Entwicklung, Probleme, Fördermöglichkeiten einzelner Kinder austauscht. In der Regel werden diese Kinderkonferenzen auch von Mitarbeitern der Gemeinde besucht, die die Kinder und ihre Familien aus Therapiemaßnahmen o. Ÿ. kennen. Auf diese Weise erfolgt ein unkompliziertes Arbeiten der betroffenen Institutionen Hand in Hand zum Wohle "gefährdeter" Kinder und Familien.

Ein entsprechender Expertenaustausch erfolgt auch für andere Gruppen von Kindern, z. B. Migrantenkinder oder die vielen Sinti-Kinder, die auf eigenen Wunsch oft von Weit her die Grundschule Harmonie besuchen und bei denen die Schule es - gegen alle Prognosen - geschafft hat, Lernen und Schule auch für das "fahrende Volk" so attraktiv zu machen, dass viele dieser Kinder ihre Eltern vor den Fahrten so unter Druck setzen, dass sie möglichst lange die Schule besuchen können.

Besonderheiten der GSH - Schwerpunkt Unterricht

Das Zentrale in der Grundschule Harmonie ist allerdings der Unterricht, der immer seiner Zeit ein Stück voraus zu sein scheint. Grundregel in der Schule ist - und als Regelschule mit ihr zugewiesenen Lehrkräften hat sie auch keine andere Wahl - dass jeder Lehrer und jede Lehrerin so unterrichten kann wie er oder sie das für sinnvoll und effektiv hält. Dieses Grundrecht schützt die einzelne Lehrkraft davor, Unterricht zu praktizieren, den sie gar nicht praktizieren möchte oder kann, und verlangt gleichzeitig von ihr die berufliche Professionalität, sich sehr gewissenhaft für den eigenen Unterricht zu entscheiden.

Allerdings befindet sich die einzelne Lehrkraft in der Grundschule Harmonie nicht im luftleeren Raum, denn die immer und überall offenen Klassentüren, die Schulversammlungen, die täglichen Dienstbesprechungen, die klassenübergreifende Zusammenarbeit im Unterricht, die wöchentliche intensive inhaltliche Arbeit an allgemeindidaktischen und fachdidaktischen Fragstellungen in den Konferenzen usw. erzeugen eine Eingebundenheit in das Gesamtsystem Schule, das auch vor dem eigenen Unterricht nicht halt macht.

So findet man zwar hinter jeder Klassentür eine andersgeartete Umsetzung dessen, was man in den gemeinsamen Konferenzen bespricht und diskutiert, aber man findet auch einen gewissen Grundkonsens von Haltungen und Unterrichtsbausteinen, der so innovativ wirkt, als ob diese Schule alle Lehrer und Lehrerinnen zu innovativem Arbeiten verpflichten würde. Und genau das ist der gravierende Unterschied zu vielen Reform- und Versuchsschulen, in denen man oft den Eindruck hat, dass die Reformkonzepte von oben verordnet werden und die einzelnen Lehrkräfte bei der Umsetzung unter einen kontraproduktiven Druck geraten.

Die Grundschule Harmonie hat sich keinem bestimmt en Konzept verpflichtet. Man findet altgediente Lehrkräfte, die ihren Unterricht in jahrelanger Reflexion in sehr hochwertige Strukturen weiterentwickelt haben, man findet Lehrkräfte, die besser als viele Fachleiter genau das umsetzen, was in den letzten Jahrzehnten an Konzepten und Ideen zur ÷ffnung des Unterrichts Einzug in den Schulen gehalten hat und man findet Lehrkräfte, die der aktuellen Didaktik immer ein gutes Stück voraus sind und neuste Entwicklungen lächelnd begrüßen, weil sie schon wissen, wohin es danach gehen kann.

Trotz all der Unterschiedlichkeit haben sich bestimmte Gemeinsamkeiten in allen Klassen entwickelt, die mir in dieser Konsequenz und Breite noch an keiner anderen reform- oder Regelschule begegnet sind.

In allen Klassen werden Probleme und Konflikte von den Kindern selbst in entsprechenden Gremien (Klassenräte) gelöst. In allen Klassen arbeiten die Kinder (zumindest auch) an eigenen Themen, d. h. ganz losgelöst von irgendwelchen Lehrgängen und vorstrukturierten Arbeitsmaterialien wählen sie Themen, mit denen sie sich näher beschäftigen und die sie anschließend der Klasse präsentieren. Die Palette ist im Prinzip eine überfachliche, ganz so wie die Bildungskommission NRW das Konzept effektiver Schulgestaltung auch für die weiterführende Schule beschrieben hat: sie geht von sachunterrichtlichen Fragestellungen im weitesten Sinn über das kreative Schreiben bis hin zu mathematischen, religiösen oder musischen Fragestellungen, die mit Hilfe von Fachbüchern, Expertenmeinungen, eigenen Forschungen und Beobachtungen dann dokumentiert und aufbereitet werden. Am Schluss kann eine Plakatvortrag stehen, eine Ausstellung, aber auch ein Power-Point-Vortrag oder eine Exkursion.

Diese bedeutet für die Fachdidaktik, dass viel Wert auf das selbstständige, selbstgesteuerte und selbstverantwortliche Arbeiten gelegt wird - und zwar von Anfang an. Deshalb findet man in keiner Klasse mehr einen Fibellehrgang, sondern Werkzeuge wie Buchstabentabellen, mit denen die Kinder sich die Schriftsprache in ihrem eigenen Tempo aufbauend auf ihren Vorkenntnissen selbst beibringen. Aber auch für Mathematik sind von Lehrkräften der Schule in Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern eigene Werkzeuge entwickelt worden, die das Verwenden von Lehrgängen in Frage stellen oder aber Lehrwerke nicht als Lehrgänge, sondern als Ideenkiste für das aktiv-entdeckende Lernen der Kinder nutzen. Auch für Kunst und Musik hat die Schule Werkzeuge und Ideenkisten entwickelt, die den Kindern die Methode des Lernens in die Hand geben.

Die Formen äußerer Demokratie, die die Schule so stark von anderen unterscheidet, sind dadurch auch im Unterricht zu finden: durch die ÷ffnung des Unterrichts und die Bereitstellung von Werkzeugen und Ideenkisten statt reproduktiver Arbeitsmaterialien wird der Lernweg der Kinder demokratisiert. Etwas, was genau das Problem vieler Freier Alternativschulen widerspiegelt, wenn ein System mit Formen äußerer Demokratie nicht auch die Lernmethoden öffnet bzw. demokratisiert und schrittweise daran zerbricht.

Besonderheiten der GSH - Schwerpunkt Eigenevaluation nicht nur für Lehrkräfte

Die Grundschule Harmonie zeichnet sich vor allem durch ein hohes Maß an Selbstevaluation aus (s. o.) - und das nicht nur auf die Lehrer beschränkt. Die Schule arbeitet ständig an der Entwicklung und Vervollkommnung sinnvoller und verlässlicher Messinstrumente, mit denen nicht nur das Lernen bzw. die Entwicklung der Schüler in Formen lehrgangslosen Unterrichts gemäß der angestrebten Standards erfasst werden kann, sondern die vor allem auch dienlich sind für ein Unterrichtskonzept, das Schüler nicht mehr (bzw. nur noch formal) in Jahrgangsklassen einteilt.

Wenn man als Lehrer die Leistungen eines Kindes bzw. einer Klasse sinnvoll messen möchte, so muss man sie so umfassend messen, dass eben nicht nur ein kleiner - evtl. sogar vorher eingeübter - Teilbereich erfasst wird, sondern so, dass die Messung Aufschluss über das wirkliche Können des Einzelnen bietet. Am einfachsten geht dies über die Eigenproduktionen des Kindes. Da, wo nichts auswendig gelernt werden kann, weil es sich um ein vom Kind vollkommen selbst erstelltes Produkt handelt, da kann der Lehrer auch nicht über die Leistung des Kindes getäuscht werden. Jede freie Geschichte, jeder eigene Vortrag, jede Mathematikaufgabe bzw. -erfindung, die das Kind verschriftet, informiert den Lehrer über den momentanen Leistungsstand - und zwar gerade dann, wenn "Fehler" Hinweise auf den Entwicklungsstand bzw. die ablaufenden Denkprozesse geben.

Um in einer Klasse, in der Kinder vom Schulkindergartenkind bis zum Viertklässler vorhanden sind, die Leistungen und Leistungsentwicklungen über die Eigenproduktionen hinaus normiert zu erfassen, bedarf es dann spezieller "Ðberforderungstests". Diese sind wissenschaftlich bislang nur in einzelnen Fachbereichen (Rechtschreiben, z. B. Hamburger Schreibprobe) entwickelt bzw. veröffentlich worden, in anderen Bereichen (Mathematik) finden sich nur jahrgangsausgerichtete Tests. Hier wurde an der Grundschule Harmonie die Idee des Ðberforderungstests aufgegriffen und klassenübergreifend evaluiert.

Leistungsbewertung spielt dabei in allen Klassen vom ersten Schultag an eine Rolle - und zwar auf eine ganz selbstverständliche und positive Art: Die Kinder treffen sich jeden Tag mehrmals im Sitzkreis, um zu sagen, was sie arbeiten werden, um sich bzgl. ihres Vorgehens abzusprechen, ihre Ergebnisse und Zwischenergebnisse vorzustellen und zu reflektieren und ihre Arbeiten sowohl selbst als auch gegenseitig zu bewerten. Dabei tauschen sie sich über ihre Produkte und ihre "Tagesleistungen" aus, schätzen ihre Leistungen selber ein und fordern auch von anderen Kindern Bewertungen.

Jedes halbe Jahr schreiben sich die Kinder entweder selbst ein "Zeugnis" oder füllen einen "Selbsteinschätzungsbogen" aus, Material, das als Gesprächsgrundlage über ihre Leistungen dient. Diese Rückmeldungen der Kinder können nicht nur die Transparenz der Leistungsbewertung für die Gutachten und Zeugnisse erhöhen, sondern machen vor allem die Kompetenz der eigenen Leistungsbeurteilung sichtbar. Dabei sind folgende Bereiche zu finden:
  • Verhalten in der Gemeinschaft
  • Arbeitsverhalten
  • Präsentation
  • Sachunterricht
  • Englisch (Erkennen und Verstehen, Sprechen, Arbeitstechniken)
  • Deutsch (mündliches Sprachhandeln, Schreiben und Rechtschreiben, schriftliches Sprachhandeln, Lesen)
  • Mathematik (Zahlraum, Größen, Plusrechnen, Minusrechnen, Malrechnen, Geteiltrechnen, Geometrie)
  • Musik
  • Kunst
  • Sport

Dieselben Bögen füllen dann auch Eltern und Lehrer als "Fremdeinschätzung" aus, sodass sich die verschiedenen Ansichten schnell und einfach miteinander vergleichen lassen und eine gewinnbringende Grundlage für die seit Jahren regelmäßig stattfindenden Eltern-Lehrer-Kind-Gespräche zu den Zeugnissen sind: Unterschiedliche Einschätzungen und Erwartungen werden sofort ersichtlich und können besprochen werden. In Einzelfällen schließen die Beteiligten direkt Lernverträge ("Lernkontrakte") miteinander ab, z. B. Lena schreibt pro Woche eine überarbeitete Geschichte und die Mutter verpflichtet sich, dass Lena nicht länger als die rechtlich vorgeschriebene halbe Stunde Hausaufgaben pro Tag machen muss.

All diese verschiedenen Arten der Leistungsmessung gehen nicht zentral und fremdbestimmt vom Lehrer aus und bringen so die Schüler in eine Defensivrolle, sondern sind - da sie maßgeblich auf den Eigenproduktionen und Eigeneinschätzungen der Kinder und nicht auf einem fremden Lehrgang beruhen - eine Mischung eigener und von außen kommender Rückmeldungen auf die eigenen Leistungen. Durch den Prozess des Vorstellens und Reflektierens ihrer eigenen Arbeiten sowie der Arbeiten ihrer Mitschüler sind die Kinder von Anfang an Beurteilungen gewohnt und entwickeln ein sehr genaues Gefühl für die richtige Bewertung von Leistungen - und zwar eines, das sowohl der individuellen Entwicklung als auch dem Anspruch der Leistungsnorm gerecht wird. Genauso wie sich Kindern soziale Regeln nicht wirklich (oder nur äußerst) begrenzt von außen (durch Erwachsene) aufdrücken lassen, genauso muss auch die Leistungserziehung etwas sein, was von den Kindern selbst als produktiver (und sanktionsloser) Prozess getragen wird.

Das, was die Grundschule Harmonie so besonders und auszeichnungswürdig macht, ist die konsequente, kindorientierte Grundhaltung, die dabei das Lernen und Arbeiten nicht negiert oder relativiert, sondern vielmehr produktiv zur Sache des Kindes macht. Vergleicht man die Grundschule Harmonie mit anderen Regel- oder Alternativschulen, so findet einerseits eine große Vielfalt an professioneller Umsetzung der Grundgedanken, aber man findet vergleichsweise wenig Alibiaktionen - die Deckmäntelchen, unter denen viele andere Schulen versuchen, dem hohen Anspruch der Richtlinien und Lehrpläne zu begegnen.

Die Grundschule Harmonie ist keine einfache Schule, sondern eine Provokation im Hinblick auf das Zusammenleben und -lernen mit Kindern. Sie ist weder für die Eltern eine einfache Schule - sie läuft zu anders als das, was Eltern von früher her kennen - noch für die Kinder, denn die können sich nicht mehr durch das Abarbeiten beliebiger Materialien beschäftigen, sondern müssen ihr Lernen selbst in die Hand nehmen, weil ihnen das keine abnimmt.

Und sie ist gerade für die Lehrkräfte keine einfache Schule (man denke nur an die tägliche freiwillige Dienstbesprechung noch vor dem Unterricht um 7.15 Uhr), aber sie schafft auch für die Lehrkräfte das, was seit Jahren für ein effektives Lernen für die Schüler gefordert wird: echte Authentizität trotz der Lehrerrolle, Identifikation mit dem eigenen Tun und Selbstregulierung inmitten einer Gemeinschaft. Von daher hat die Grundschule Harmonie nicht nur im Rahmen der Zusammenarbeit mit Kindern und Eltern eine Vorbildfunktion, sondern kann auch die zurzeit flächendeckend angelegte Suche nach der besten Form der "selbstständigen Schule" abkürzen: die von Kindern, Lehrern und Eltern selbstverantwortete Schule erscheint unter diesem Blickwinkel als die beste Lösungsform.

Ich habe mich gefreut, ein Gutachten über diese Schule schreiben zu dürfen.

Lügde, 25. März 2006

 

 

                               (Dr. Falko Peschel)

Zum Gutachter:

Dr. Falko Peschel ist anerkannter Erziehungswissenschaftler, Hochschuldozent und Grundschullehrer. Er arbeitet regional und überregional in der Lehreraus- und Fortbildung, hält Vorträge zu allgemein- und fachdidaktischen Fragestellungen im In- und Ausland und hat ständige bzw. wiederkehrende Lehraufträge an den Universitäten Köln, Siegen, Bremen, Koblenz und Frankfurt.

In seinen zahlreichen Vorträgen und Veröffentlichungen beschäftigt er sich schwerpunktmäßig mit dem Thema Schulentwicklung und offener Unterricht. Im Rahmen seiner Forschungsarbeiten ist besonders die von der Universität Siegen mit dem Preis für hervorragende wissenschaftliche Leistung ausgezeichnete Studie "Offener Unterricht in der Evaluation" hervorzuheben, die als umfangreiche qualitativ-quantitativ angelegte Untersuchung erstaunliche Aufschlüsse über das Potential eines konsequent am selbstgesteuerten informellen Lernen der Kinder ausgerichteten Unterricht gesetzt hat. Falko Peschel hat nach seiner wissenschaftlichen Arbeit an der Universität Siegen zwei Jahre als Konrektor im Kollegium der Grundschule Harmonie mitgearbeitet, um das Konzept des Offenen Unterrichts in schwierigen Bedingungen (mit als nicht schulreif diagnostizierten Kindern bzw. Kindern mit geringen Vorkenntnissen oder aus bildungsfernen Elternhäusern stammend) zu erproben. In diesem Rahmen ist auch die WDR-Dokumentation "Ich mache, was ich will. Freies Lernen in der Grundschule" der Sendereihe "Menschen hautnah" entstanden.
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