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Die Freinet's
in deutscher Übersetzung
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Wir
sind Lehrlinge
Wir sind Lehrlinge, die manchmal vorgeben, Meister zu sein, und die vor sich selbst gerne ihre Unzulänglichkeiten und Schwächen verstecken. Aber wie denn! Haben wir nicht lange studiert und sind wir denn nicht wie die Mechaniker und Maurer mit einem Zeugnis versehen, das unsere professionellen Fähigkeiten bestätigt? Haben die langjährigen Praxiserfahrungen uns nicht diese Sicherheit in der Diagnostik und diese Entscheidungsfähigkeit vermittelt, die alte, in ihrem Beruf erfahrene Arbeiter auszeichnet? Man muß wohl annehmen, daß die menschliche Mechanik auf ganz andere Weise komplex und diffizil ist, als die genialsten Mechanismen, die Spezialisten erfunden haben. Denn auch unsere Professoren der Psychologie und Pädagogik bleiben ihrerseits noch Lehrlinge. Sie sind noch nicht zu den wirklichen Geheimnissen einer Wissenschaft vorgedrungen, die sie überfordert. Auch sie tasten wie wir, mit ebenso begrenztem Erfolg, wenn sie mit den wirklichen Problemen des Lebens, ihren eigenen schwierigen Kindern nämlich, konfrontiert sind; wenn sie den Zurückgebliebenen und Verhaltensgestörten in einer heterogenen Klasse, die man führen und lenken muß, ausgesetzt sind. Wir bewundern die fähigen Köpfe, die mit der Mathematik jonglieren und sich daran versuchen, vernünftige Roboter mit einem ersten Ansatz von Intelligenz zu konstruieren. Wir warten aber noch auf den, der den Menschen ganz genau zu erforschen wüßte und der uns meisterlich all die Wege zeigte, die unsere arme psychologische Wissenschaft erst langsam entdeckt. Wir sind alle Lehrlinge. Wir sind alle noch in der Periode des Tastens, und wir haben die Bresche noch nicht gefunden, durch die wir triumphierend in die bis dahin verbotenen Domänen einbrechen könnten. Noch nichts Definitives wurde gesagt außer dieser bescheidenen Erkenntnis unserer gemeinsamen Unkenntnis. Manchmal wird befürchtet, die Erde sei bald zu klein für den Hunger der Forscher, die der Ruf des Abenteuers und des Unbekannten lockt. Aber wir haben noch den Menschen zu erforschen und zu erobern. Die Praktiker, die Leute vom Fach sind aufgerufen, zu dieser Eroberung - wie bei allen Entdeckungen - den ersten Schritt zu tun, den vielleicht, der in einer Art Kettenreaktion ein unendliches Bedürfnis danach auslöst, den Menschen und das Kind, den Menschen von morgen, zu entdecken. Text aus: J. Hering u W. Hövel (Hrsg): Immer
noch der Zeit voraus, 19961, Bremen
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