Freinet-Online

Skip to: site navigation/presentation

Bohec, Paul Le: Verstehen heißt wiedererfinden

Rezension von Hartmut Glänzel 11.4.2002

Verstehen heißt wiedererfinden
Natürliche Methode und Mathematikunterricht
Paul le Bohec

Vorwort
(ist auch wie eine Besprechung von Hartmut Glänzel)

"Le texte libre mathematique - la methode naturelle" so hatte Paul Le Bohec ursprünglich dieses Buch genannt und damit bereits im Titel ausdrücken wollen, daß sein Anliegen ein Doppeltes ist. Zum einen geht es ihm um eine besondere Art der Annäherung an die Mathematik (le texte libre mathématique: der freie mathematische Ausdruck). Zum anderen um die Darlegung einer besonderen Lernmethode (méthode naturelle: natürliche Methode). Für den deutschen Sprachgebrauch ist beides nicht sonderlich aussagekräftig. Weder dürfte dem Leser vor der Lektüre dieses Buches klar sein, was ein freier mathematischer Text sein könnte, noch ist die natürliche Methode ein in pädagogischen Kreisen sonderlich bekannter Begriff. So gab es während der Ubersetzung und Bearbeitung dieses Buches die verschiedensten Titelvorschläge. Bis schließlich ein Zitat in den Blick geriet.


"Verstehen heißt Wiedererfinden!", so ein Piaget-Zitat, auf das Paul Le Bohec in Kapitel 3 aufmerksam macht, pointiert auf das Treffendste, worum es bei der natürlichen (Lern-) Methode eigentlich geht. Und den Zusammenhang zwischen "Mathematik und natürliche(-r) Methode" - so der Untertitel - wird der Leser dann ja noch im Buch in Erfahrung bringen. Damit war der Titel geboren zu einem Werk, das in vieler Hinsicht bemerkenswert ist.

Bemerkenswert ist schon die Entstehensgeschichte. Da drückt der Franzose Paul Le Bohec, einer der großen alten Männer der Freinet-Bewegung und der Hauptvertreter der natürlichen Methode, der Freinet-Pädagogin Marie-Claude Flügge-Dutilly, die er auf einem der internationalen Freinet-Treffen kennengelernt hat, ein Manuskript mit dem Titel "Le texte libre mathematlque" in die Hand, mit der Nachfrage, ob die Deutschen es vielleicht herausgeben wollten.

Marie-CIaude, Französin und schon seit Jahrzehnten in Berlin lebend, Lehrerin, aber keineswegs Mathematiklehrerin, bringt dieses Werk dann in die Berliner Freinet-Gruppe mit, die sich - welch Zufall - gerade mit Mathematik beschäftigt.

So entsteht der Entschluß, eine Rohübersetzung einiger Passagen vorzunehmen, um genauer prüfen zu können, wie lohnend das Werk wäre.

Parallel dazu beginnt Angela Glänzel auch schon mit ersten Versuchen zu einer derartigen Mathematik in Berlin und veröffentlicht einen ersten Artikel dazu in "Fragen und Versuche" [der Zeitung deutscher Freinet-LehrerInnen, die 3 - 4 mal jährlich erscheint] Nr. 56, dessen Quintessenz bald auch von anderen Freinet-PädagogInnen z.B. in Hamburg aufgegriffen wird.

Auf diese Weise wächst das Interesse an dieser Art Mathematik sehr schnell und damit fällt auch die Entscheidung für die Herausgabe. Es gilt nun einen passenden Übersetzer für das Manuskript zu finden. Dieser sollte - so die Berliner Freinet-Gruppe - sowohl gut vom Französischen ins Deutsche übersetzen können, als auch einiges von Mathematik verstehen und schließlich auch noch Paul und dessen "natürliche Methode" sowie die Eigenarten seines Sprechstiles kennen. Schließlich findet sich Peter Schütz aus Hildesheim, der seit längerem im internationalen Bereich der ,Freinet-Bewegung aktiv ,ist, fließend Französisch spricht und Paul persönlich kennt. Als auf einem der jahrlich stattfindenden Freinet-Grundschultreffen in Altenmelle Pauls Ansatz vorgestellt wird, ist Peter begeistert und erklärt sich bereit, die Rohübersetzung des Buchmanuskriptes anzufertigen.

Marie-Claude FIügge konnte dann gewonnen werden, die Rohübersetzung nochmals zu überprüfen, Angela Glänzel übernahm die stilistische und sachlogische Überarbeitung, so daß das Buch im Deutschen lesbar schlüssig und verständlich würde, und Gerda Frommeyer (Bremen) schließlich stand für die Feinarbeiten Rechtschreibprüfung, Lay-out etc.) zur Verfügung - das Abenteuer konnte beginnen.

Und es war wirklich ein Abenteuer, denn ziemlich bald stellte sich heraus, daß Pauls Werk nicht nur wie ein Manuskript aussah, sondern tatsächlich noch ein solches war. Und es bedurfte noch erheblicher Arbeit in der Gruppe Peter, Angela und Marie-Claude - teils mit, teils ohne Paul - um aus dem Manuskript das Buch werden zu lassen, als das es jetzt vorliegt. Da mußten ganze Kapitel weggelassen, völlig umgestellt oder auch fast neu geschrieben werden usw. usw.

Im Laufe des Entstehungsprozesses dieses Buches haben alle Beteiligten viel über die Komplexität der Übersetzung und Herausgabe eines Werkes gelernt und sind oft genug an ihre Grenzen gestoßen, zumal sie diese Arbeit neben ihrem normalen Berufsalltag bewältigten.

Letztendlich ist das Vorhaben dann auch nur mit gutem Zuspruch und mancherlei Übersetzungs- und Formulierungshilfen vieler - hier ungenannt bleibender - Freinetfreunde zum Abschluß gekommen. So ist dieses Buch wirklich zu einem Gemeinschaftswerk von Freinet-Pädagoglnnen geworden und hat, noch ehe es erschienen ist, eine breite Wirkung innerhalb der deutschen Freinet-Bewegung gehabt.

Dieses Buch ist aber vor allem wegen der hier entwickelten Lernmethode bemerkenswert.Eines der zentralen Anliegen Paul Le Bohecs ist es, mit diesem Buch zu einer Grundlegung der 'natürlichen Methode' zu kommen, einer Lernmethode wie es in der Regel in der Schule für notwendig erachtet wird, abhebt. Nach der natürlichen Methode lernt z.B. jedes Kind seine Muttersprache sprechen. Das Kind hört, spricht nach, hört wieder, korrigiert sich, usw. und es dürfte kaum einen Pädagogen geben, der die Effektivität derartigen Lernens in Zweifel ziehen und z.B. den Eltern raten würde, doch lieber mit ihrem Kind erst ein Übungsprogramm für einzelne Buchstaben oder einfache Wortgebilde zu absolvieren, ehe sie denn mit ihm in ganzen Sätzen und schwierigeren Wörtern sprechen sollten.

Eine der ersten, die recht umfassend mit der natürlichen Methode in Berührung gekommen sind, ist meines Wissens die taubstumme und blinde Helen Keller, die ab 1887 (Helen war damals etwa 7 Jahre alt und konnte sich nur mit Hilfe einiger Gesten verständlich machen) von ihrer Lehrerin Annie Sullivan in der Weise ,unterrichtet' wurde, daß diese ihr (ganz wie die Mutter mit ihrem kleinen Kinde spricht) fast von Anfang an unaufhörlich in die Hand buchstabierte, ohne ihre Sätze erst didaktisch aufzubereiten oder vorgefertigte Sätze vorzulegen, die Helen dann 'nachzubuchstabieren' hätte - eine 'Methode', die sich Annie Sullivan in der Arbeit mit Helen selbst erarbeitet hatte. Auf diese Weise entwickelte sich die Sprachfahigkeit von Helen derart rasch und weitgehend, daß die Lehrer einer Taubstummenschule, die nach herkömmiichen Unterrichtsmethoden mit ihren SchülerInnen mit vorgefertigten Sätzen arbeiteten, die diese dann ,nachsprechen' mußten, es kaum glauben konnten [H. Keller: Geschichte meines Lebens, Scherz-Verlag, Bern 1955] Auch der Reformpädagoge Berthold Otto war von der natürlichen Methode überzeugt. Seine ideale Schule sollte eine solche sein, in der das Kind das natürliche Lernen der Vorschulzeit nahtlos fortsetzen kann.

Freinet hat die Leistungsfähigkeit der natürlichen Methode sehr eindringlich in seinem Buch "L'apprentissage de la langue" [C. Freinet: L'apprentissage de la langue, Editions Delachaux et Niestlé, Neuchatel, Schweiz 1973, Teilabdruck unter dem Titel "Vom Schreiben- und Lesenlernen" in Boehnkeke/Humburg, Schreiben kann jeder, Rowohlt TB 1990] an der Schreib- und Leseentwicklung seiner Tochter Balouette aufgezeigt; übrigens ein Ansatz, wie er heute in der Methode 'Lesen durch Schreiben,' des Schweizers Jürgen Reichen erfolgreich in vielen schweizer und deutschen Grundschulklassen praktiziert wird.

Dennoch hatte Freinet offensichtlich auch seine Zweifel an der generellen Einsetzbarkeit der natürlichen Methode. Er war es jedenfalls; der Paul abriet, daran weiterzuarbeiten. Freinets Frau Elise, im Unterschied zu ihrer späteren Euphorie anfangs noch recht skeptisch gegenüber Pauls Vorhaben, schrieb, so berichtet es Paul selber: "Ich glaube zwar nicht daran, aber mach weiter. Du könntest ja recht haben." Dies offensichtlich beherzigend und eingebettet in eine pädagogische Bewegung, die weniger auf die Worte ihres Gründers denn auf die eigenen Erfahrungen und Forschungen gibt hat sich Paul lange Jahre der Entwicklung natürlichen Methode verschrieben und sie wie unter anderem dieses Buch zeigt, zu seinem Lebenswerk gemacht. Im Laufe seiner Forschungen und Erfahrungen mit Kindern und auch mit Erwachsenen hat er die Grenzen dieser Methode immer weiter hinausschieben können und ist gerade in der Mathematik, an die er sich zuletzt gewagt hatte, besonders erfolgreich gewesen. Dies macht schon Erstaunen, scheint sich doch ein Fach, das immer als der Inbegriff der Systematik betrachtet wird, einer solchen 'unsystematischen' Methode gegenüber auf den ersten Blick völlig zu versperren.

Bemerkenswert schließlich ist dieses Werk von dem in ihm vorgestellten Verständnis von Mathematik und Mathematikunterricht.

Überblickt man die derzeitige Situation des Mathematikunterrichts, so wird man feststellen, daß auch heute noch - zumindest in Deutschland - die Mehrzahl der Mathematiklehrerlnnen dem Glauben anhängen, die Aufgabe des Mathematikunterrichts bestehe im wesentlichen darin; Standardverfahren zur Lösung von - in Mathematikbüchern zusammengestellten - Aufgaben einzuüben. Aber auch reformpädagogisch orientierte Lehrerlnnen sind trotz aller Öffnung ihres Unterrichts im sprachlichen und sachkundlichen Bereich in der Regel nur wenig über diesen eben erwähnten Ansatz hinausgekommen und können sich unter einem anderen Mathematikunterricht letztlich auch nur die Auflockerung durch mathematische Übungspiele oder Aufgabenkärtchen in Karteikartenform vorstellen.

Dagegen stellt Paul Le Bohec nun einen Ansatz, der das kreative Potential der Kinder (und der Erwachsenen) auch in der Mathematik voll zur Entfaltung bringt. Wer diese Passagen dieses Buches liest, in denen es um die mathematischen Kreationen der ,Kinder und der Erwachsenen geht, wird bald merken, daß Mathematik eine ganze Menge mehr bedeutet als routiniertes Nachmachen von Lösungsthemata. Daß Mathematik etwas ungeheuer Spannendes und Kreatives sein kann, haben große Mathematiker immer wieder deutlich gemacht. Bekannt ist z.B. Norbert Wieners Ausspruch: "Ich bin Mathematiker, also Künstler". Diejenigen, die im Studium bis in die neuere Forschung der Mathematik vorstoßen konnten (wie es mir z.B. vergönnt war), werden diesen Zusammenhang zwischen Mathematik un Kunst bestätigen können. Daß auch mathematische Laien etwas von diesem Fluidum spüren können, kann man diesem Buch entnehmen und - wie ich Hoffe - auch selbst erleben, wenn man sich, sei es mit KolIeginnen oder seiner Klasse - auf das Abenteuer des freien Ausdrucks auch in der Mathematik einläßt.

Dabei bleibt Paul Le Bohec mit seinen Klassen nicht im unverbindlichen 'Sandkastenspiel' hängen, wie man vielleicht argwöhnen könnte. Vielmehr werden LeserInnen staunen, mit welcher Schnelligkeit ihre Klassen sich in die Tiefen der Mathematik eingraben und spielend Themen bearbeiten, die weit, weit über den Rahmen der üblichen Grundschulmathematik hinausgehen.

Als das Abenteuer dieser Buchherausgabe vor fast 4 Jahren begann, ahnte noch niemand, daß wir damit unmittelbar im Trend der neuen Diskussion um den Mathematikunterricht liegen würden. Nach der selbstverordneten Innovationspause, nach dem Desaster mit der Einführung der sogenannten 'neuen Mathematik' scheint nämlich jetzt ein neuer Motivationsschub in der Mathematikdidaktik Platz zu greifen:

- Da mehren sich in letzter Zeit Beiträge, die sich in radikaler Weise mit dem bisherigen Mathematikunterricht auseinandersetzen: etwa von der französischen Mathematikerin Stella Baruk, die dem Mathematikunterricht vorwirft, absolut nichts über die Psyche der Kinder zu wissen, denen man Mathematik beibringen will, oder von Forschern der Chaosmathematik [Peitgen u.a.: Bausteine des Chaos - Fraktale, Stuttgart 1994], die dem Mathematikunterricht vorwerfen, daß "von den Lernenden mehr erwartet wird, als das gedankenlose Exerzieren von Fertigkeiten...".

- Da erscheinen zwei Ausgaben der "Grundschulzeitschrift" kurz hintereinander mit einem Schwerpunkt in Mathematik [Die Grundschulzeitschrift, Hefte 72 und 74. Seelze 1994] in dem sich bereits zeigt, wie Grundschullehrerlnnen z.T. mit, aber auch ohne den Bohec'schen Impuls - einen freieren Mathematikunterricht praktizieren und reflektieren.

- Da gibt es schließlich die Schweizer Urs Ruf und Peter Gallin, die seit einigen Jahren mit ihrem Buch 'Mathematik und Sprache' [U. Ruf und P. Gallin: Mathematik und Sprache. Verlag Lehrerinnen und Lehrer Schweiz, Zürich 1990], einen Ansatz des Mathematikunterrichts vertreten, der die Rollenverteilung von Lehrerinnen und SchülerInnen völlig verändert. Hier ,wird nicht mehr wie in der Regel im Mathematikunterricht üblich, von Schülerinnen erwartet, daß sie in erster Linie die Theorien der LehrerInnen nachzuvollziehen haben, die diese als wohlportionierte Mathehäppchen verabreichen. Vielmehr sind die SchülerInnen als aktive Teile aufgefordert, sich selbst einen Reim auf das Ausgangsproblem zu machen, und die Aufgabe der Lehrerinnen besteht darin, die von dem Kind erdachten Ideen nachzuvollziehen und diesem zu helfen, diese seine privaten Theorien weiterzudenken und auszuentwickeln. Und erst danach ist die richtige Zeit, die öffentliche Theorie der Wissenschaft kennenzulernen und zu übernehmen - wozu die Schülerinnen dann auch sehr leicht und schnell bereit sind.

Dem doppelten Ansatz dieses Buches entsprechend gehen unsere Wünsche denn auch in zweierlei Richtung. Zum einen hoffen wir mit dieser Herausgabe einen kräftigen Impuls für die Neuentwicklung des Mathematikunterrichtes zu geben. Auf der anderen Seite möchten wir hiermit zur Auseinandersetzung mit und Weiterentwicklung der natürlichen Methode anregen, einer Lernmethode, die derzeit - von Pädagogen offensichtlich weitgehend unbemerkt und diese außen vorlassend - mal wieder ihre Leistungsfähigkeit beweist. Wer beobachtet, wie und mit welcher ,Methode' - und Leichtigkeit - sich Kinder und Jugendliche derzeit des Computers bemächtigen, wird wissen, was ich meine.

Hartmut Glänzel
Pädagogik-Kooperative e.V
Bremen im Juli 1994

Copyright © by Freinet-Online. Alle Rechte vorbehalten.

[ Zurück ]